Living in the post - Ethnographische Perspektiven auf Postsozialismus und Erinnerung

27. Februar 2020

Der Begriff „Postsozialismus“ wurde in den 1990er Jahren aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus entwickelt, um die Transformationen der ehemals staatssozialistischen Gebiete erforschen und beschreiben zu können. Nun, 30 Jahre nach der sogenannten Wende, möchten wir diese Debatte aufgreifen, um zu fragen, in welchen Momenten die Kategorie heute noch von analytischer und politischer Bedeutung ist, um spezifische Einsichten zu gewinnen, die ohne sie nicht möglich wären (vgl. Ringel 2016: 399).

Dabei subsumiert der Begriff einerseits ein „Danach“, eine bestimmte Art der Gemeinsamkeiten zwischen den ehemaligen Ostblockstaaten (vgl. Humphrey 2002: 12). Die Betonung der Gemeinsamkeiten suggeriert hierbei eine relevante Einheit der Regionen. Weiter bezeichnet er jedoch eine Vielzahl von Orten, Zeiten und Phänomenen, nähert sich der sogenannten „Transformation“ dabei meist aus einer machtkritischen Perspektive und geht von der Annahme aus, dass die verschiedenen Erfahrungen, Geschichten, Vorstellungen und Glaubenssysteme der Zeit des ‚real existierenden Sozialismus‘ sowie deren institutionelle Verankerungen fortwirken (vgl. Humphrey 2002: 12; vgl. Hann 2002: 11). So wird versucht, den Übergang von Sozialismus zu Kapitalismus zu denaturalisieren und einen verengten Blick auf rein ökonomische Aspekte auszuweiten, um politische, soziale und kulturelle Praxen mit ins Blickfeld zu holen (vgl. Buchowski 2012: 69). Dadurch wird der überregionale Kontext auf spezifische Weise mit den lokalen Praktiken verbunden.

Fragen nach der Bedeutung von Postsozialismus sind ebenso eng mit Fragen über das Erinnern verbunden, basiert das Konzept des Postsozialismus doch auf der Tatsache, dass etwas einst Bestehendes nicht mehr in der bekannten Form existiert. Die Vergangenheit besteht demnach nicht losgelöst von der Gegenwart, denn das Vergangene sowie die Erinnerungen an das Geschehene stützen sich auf gegenwärtige Kontexte und Akteur*innen, und diese werden wiederum durch wechselwirkende Handlungen und diskursive Praktiken ko-konstituiert (vgl. Buchowski 2012: 80). Vielmehr erscheint Vergangenheit als veränderbar, je nach (Erzähl-) Kontext werden bestimmte Ereignisse betont oder verschleiert; die Zukunft wiederum wird in alltäglichen Praktiken hergestellt, die Bezug nehmen auf das Vergangene und die Reaktionen darauf (vgl. Ringel 2016: 406; vgl. MacDonald 2013: 27). Wie kann das Nachdenken über Postsozialismus unsere Perspektive auf gegenwärtige und zukünftige Ereignisse und politische Prozesse erweitern? Wie kann uns das Auseinandersetzen mit dem scheinbar Beendeten dabei unterstützen, die fortwirkenden politischen, sozialen oder ökonomischen Kontexte zu verstehen?

In dieser Ausgabe der Berliner Blätter möchten wir Studien Raum geben, die ethnographische Beobachtungen aus dieser Perspektive heraus analysieren und interpretieren. Ebenso können Texte sich diesen Themen auf andere Weise nähern. In den Vordergrund gerückt werden sollen dabei die Ambivalenzen und Vielschichtigkeiten der Erinnerung an und Bezugnahme auf die Vergangenheit der postsozialistischen Staaten. In welchen Situationen des alltäglichen Lebens wird sich auf welche Weise auf das Vergangene bezogen? Welche Praktiken des Erinnerns und der Bezugnahme lassen sich beobachten? Welche Rolle spielt hierbei das Konzept des Postsozialismus? Durch die begriffliche Bezugnahme wird die Vergangenheit stets als Vergleichsfolie aufgerufen. Ein ethnographischer Blick kann dieses Spannungsfeld des Konzeptes zwischen Aufrufung und Reifizierung beleuchten.

Die Beiträge können in ganz unterschiedlichen Regionen verortet sein und sich verschiedenen Kontexten widmen. Thematisch können sie sich beispielsweise mit der Vergeschlechtlichung des Umbruchs, der Veränderung von Arbeitsverhältnissen in einem Betrieb oder Auswirkungen auf Migrationsbewegungen und Grenzregime befassen. Besonders interessant scheint eine intersektionale Perspektive auf den Umbruchprozess und seine Relevanz für gesellschaftliche Machtdynamiken heute. Mittlerweile wächst zudem eine Generation heran, die die zurückliegenden Ereignisse nur noch aus Erzählungen kennt, auch wenn die Vergangenheit oftmals noch kulturellen Praktiken oder der materiellen Beschaffenheit der Stadt innewohnt und als Teil der Umwelt ein- und fortwirkt.

Diese Fragen scheinen anlässlich der nun überall stattfindenden Jahrestage und Feierlichkeiten verstärkt relevant zu werden; und die Verbindung von Überlegungen zu Erinnerung und Postsozialismus eine Möglichkeit, sich ihnen anzunähern.

 

Informationen zur Einsendung


Bitte sendet euer Abstract bis zum 31. März 2020 an folgende Adresse: klara.nagel@hu-berlin.de

Eine Rückmeldung erfolgt daraufhin zeitnah. Das Abstract (auf Deutsch oder Englisch) sollte einen Umfang von 4.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht überschreiten und neben einer kurzen Zusammenfassung Auskunft geben über zentrale Fragestellung, empirische Basis sowie den Stand der eigenen Forschung.

Die fertigen Beiträge sollten eine Länge von ca. 35 000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht überschreiten. Diese erbitten wir bis zum 31.08.2020. Dieser Band wird online und im Open Access Format veröffentlicht.

Wir freuen uns auf eure Beiträge!